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Funkgeschichte am 9. August 1942 auch die Aufführung. Am Ende grup­ pierte man das Notorchester rund um den Rest des Rund­ funkorchesters. Olga Bergholz erinnert sich an den Dirigen­ ten so: „Karl Eliasberg bestieg das Podium des Dirigenten. Er trug einen Frack, einen echten Frack, wie es sich für einen Di­ rigenten gehört, obwohl er an seinem abgemagerten Körper herunterhing wie von einem Kleiderbügel.“ Olga Bergholz berichtet von tiefer emotiona­ ler Bewegung nach den ersten Takten, obwohl doch die Le­ ningrader durch Hunger und Leid abgestumpft waren und eigentlich keine Tränen mehr hatten. Zu den mythischen Geschich­ ten gehört, dass während der Aufführung die Geschütze schwiegen. „Der Chef des Sta­ bes der deutschen Achtzehn­ ten Armee, General Friedrich Ferch, befahl, als er feststellte, daß die deutschen Truppen die Symphonie im Radio mit­ hörten (die Sendung wurde in alle Teile der Sowjetunion und über Kurzwelle nach Eu­ ropa und Nordamerika aus­ gestrahlt), den Raum um die Philharmonie mit Artilleriefeu­ er zu belegen. Aber der Artil­ lerist [Leonid] Goworow hatte an diese Möglichkeit gedacht.“ Der neue Befehlshaber ließ die Leningrader Geschütze nicht mehr bloß auf deutsches Feu­ er „antworten“, sondern setz­ te sie systematisch zum Nie­ derringen deutscher Batterien 36

ein. Die Quellen von Harrison Salisbury sind sich nur nicht einig, ob die Leningrader ihr Schutzfeuer schon vor oder erst während der Aufführung abgaben. 2011 sind sich die Autoren einig, dass die Artil­ lerie pro-aktiv die deutschen Batterien niedergerungen hatte. Der Dirigent Karl Eliasberg, der seinerzeit auch unter geheim­ dienstlicher Beobachtung stand, wurde nach dem Welt­ krieg nicht Teil des Mythos Le­ ningrad, sondern musste sich in der Provinz durchschlagen. Deshalb sollte erwähnt wer­ den, dass seine Konzertarbeit über die beiden erwähnten Aufführungen hinausging und auch ihre Momente hatte. Lev S. Marchasev berichtet, „dass auch die Deutschen auf der anderen Seite der Front zuhör­ ten. Viele Jahre später, zwanzig werden es gewesen sein, kam zu Eliasberg, dem Dirigenten des Orchesters, ein schon äl­ terer Mann und sagte: ‚Wissen Sie, ich lag im Herbst und Win­ ter 1941 hier, vor Leningrad, in den Schützengräben. Schau­ en Sie, ich zeige Ihnen etwas.‘ Und er zeigte ein kleines Ta­ gebuch, in dem alle Konzerte des Symphonieorchesters des Leningrader Radios unter der Leitung Eliasbergs verzeichnet waren. Beethoven war beson­ ders hervorgehoben. Und die­ ser Mann sagte: ‚Wissen Sie, als ich all das hörte, habe ich schon am Ende dieses Jahres begriffen - wir werden Lenin­

Rundfunk & Museum 101 – August 2021

grad niemals nehmen. Wenn in einer belagerten Stadt so etwas passieren kann, werden wir niemals in Leningrad ein­ marschieren.‘“ 5. Konkurrierende Mythenbildung Die Osteuropa­Historikerin Heidi Hein­Kircher beschreibt in einem Aufsatz für die Bun­ deszentrale für politische Bil­ dung politische Mythen unter anderem so: „Charakteristisch für einen politischen Mythos ist, dass er sich durch kom­ primierte, mitreißende Bilder bzw. Erzählungen auszeichnet. Dies führt dazu, dass andere Sachverhalte von der mythi­ schen Narration ‚übersehen‘ bzw. vernachlässigt werden. Damit wird ein Ereignis, Sach­ verhalt oder die Leistung einer Person über Gebühr bewertet und glorifiziert. Ein politischer Mythos ist eine Erzählung über eine ‚Meisterleistung‘, die die Vergangenheit zumin­ dest sehr stark idealisiert.“ Solche Erzählungen sind schon angeklungen: die für ihre Hei­ matstadt zusammenstehende Bevölkerung, die historische Kulturstadt, die sich der fa­ schistischen Unkultur entge­ genstemmt, die leidende Stadt, die sowjetische Heldenstadt. Und man wird auch die Selbst­ stilisierung von Olga Bergholz und Dmitri Schostakowitsch nicht ignorieren dürfen. Die Geschichtsschreibung zur Leningrader Blockade und die Anfänge der sowjetischen Er­