Das Märchen von der Waagplatzlinde Wer meint, Märchen gehörten der Vergangenheit an, täuscht sich ganz erheblich. Auch die Gegenwart erlebt solche, nur in einer grammatikalisch gesehen anderen Zeitform, dem Präsenz. Heinzelmännchen, böse Geister, gute Feen, Prinzen, Schlösser und viel Musik (Geschehen im Dunklen) gibt es heute noch. Die moderne bzw. aktuelle Form des Märchens lautet: Es steht eine Linde auf dem Waagplatz, stämmig, austriebsfreudig, in einem Holzkorsett, darunter die sinnige Texttafel „kein Hundeklo“ - und wenn sich je der daran hält, steht die Linde bis an ihr Lebensende dort. Da sagt natürlich jetzt jeder: „Das ist doch kein Mär chen“. Richtig! Märchen beginnen mit - Es war ein mal -, und deswegen die alte Fassung. Die ist nämlich gerechtfertigt, da es wieder einmal lange dauerte, seit es die „wahre“ Linde auf dem Waagplatz gibt. Es war einmal eine Vereinigung, die konnte länger nicht mit ansehen, wie die Verantwortlichen aus der großen Burg, die gleich nebenan steht, erhaltens werte Bausubstanz mit Füßen trat und durch Kahl schlag wegsanierte. Da haben sie sich für den Waag platz, auch einen gefährdeten Platz, etwas einfallen lassen: Sie kauften einen alten Schuppen, renovier ten ihn, brachten Handwerker und beauftragten einen Bildhauer, mit dem Geld einer guten Fee den Platz neu zu gestalten. Der haute aus Muschelkalk einen Brunnen. Auch eine Linde sollte das zum Ver weilen der Passanten beitragen. Einzelne Herren aus der Burg, die aber noch viele andere Amtssitze hatte, versprachen, eine große Linde beizusteuern. Am Tag der Einweihung des Waagplatzensembles, an dem auch viele Burgvasallen mit ihrem Herrn zu gegen waren, mußte man feststellen, daß der lange, wenig verzweigte Baum gar keine Linde war. Eine kräftige Linde aus den Rest beständen des zu begrü nenden Bahnhofplatzes machte die biologisch ein zigartige Metamorphose mit, die heute bekannt ist: Sie verwandelte sich in ein mickriges Ahornbäum chen. Die Vorsitzende der Vereinigung liebte dieses „gackliche Ding". Sie nannte es bei allen Ansprachen, die sie hielt, immer ihr „Ahörnchen", das die Vereinigung mittlerweile sehr lieb gewonnen habe. Auch die Hun de und ihre Halter nahmen den neuen „Kommunika tionsplatz gern an. Der Herr von der Burg und seine Fraktionsvorsitzenden haben aber ihr Wort nicht ver gessen: „Da muß eine Linde her!" Das haben sie da mals bei der Einweihungsfeieralle geschworen. Dann verging eine lange Zeit. Plötzlich aber stand Mitte April des Jahres 1986 eine Linde auf dem Waagplatz - zum Erstaunen der Ver einigung, der Anlieger und der Hundehalter. Große Freude kehrte ein bei allen; In der Burgverwal tung war man zufrieden, die Vereinigung hatte was sie wollte und die letztgenannten führten ihre Vier beiner niemehr an die neue Linde. Von da an gedieh sie prächtig und spendete Schatten für alle, die sich darunter trafen und diskutierten. Motorräder und Autos standen weit weg - unten auf den Parkplätzen am Heiligenberg. Sie fühlte sich wohl, suchte mit ihren Wurzeln stets den Boden, der fruchtbar war, nie aber den, der laut Verordnung verboten und Standort widrig eingetra gen war. Im Herbst, wenn die Anliegen die fallenden Blätter zusammenkehrten, freute sie sich bereits
jedesmal auf das lebhafte Treiben im nächsten Sommer. Und wenn sie fleißig gegossen wird, dann lebt sie noch viele hundert Jahre! Die Bürgervereinigung bedankt sich bei allen „guten Geistern" der Burg Verwaltung! Wer letztendlich den Anstoß zur guten Wende gab, weiß man bis zum heu tigen Tag nicht. Ob die Linde lieber auf dem Bahn hofsplatz stünde oder auf dem Waagplatz - man frage sie selbst! G.W.
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