Seite:Rundfunk & Museum 100 (2021-02).pdf/12

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen.

Rundfunkgeschichte vollen­Weihnachtskonzert:­„Es­ begann­ mit­ dem­ weihevollen­ Liede­ ‚Stille­ Nacht,­ Heilige­ Nacht‘, dem dann einige andere Weihnachtslieder, sowie der Einzugs- und der Hochzeitsmarsch­von­Richard­Wagner folgten. Bei gut ausgerüsteten­ Empfangsstationen­ konnte man ohne Hörkapsel alle Einzelheiten im Zimmer hören. Besonders schön drangen Geige und Cello durch. Als Zugabe wurde ‚Ein feste Burg ist­unser­Gott‘­mit­viel­Pathos­ gespielt. Zum Schluß wünschte­der­Leiter­der­Radiostation,­ so deutlich, als säße er in einer verborgenen­ Ecke­ des­ Zimmers, allen Zuhörern ‚Fröhliche­Weihnachten!‘“ Als ob die Zeitung es selbst nicht fassen kann, endet die begeisterte Meldung mit einer Frage: „Was hat die Wissenschaft­ aus­ der­ Entfernung­ gemacht?“ Zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und Königs Wusterhausen liegen 600 Kilometer. Aus Russland erreicht Hörerpost den Funkerberg, auch aus dem 1000 Kilometer entfernten­Sarajevo:­„Ihr­heutiges­ Telephoniekonzert­ war­ ausgezeichnet.“ Die­ Empfangsbestätigungen­ spornen die Funker an. Es setzt bei ihnen, wie in den Schwingkreisen ihrer Geräte, die immer stärker werdende Rückkopplung ein, welche die Signale nach draußen trägt und die Welt durchdringt. Der Rundfunk­ –­ ein­ Sender,­ viele­

Hörer – ist nicht mehr aufzuhalten. Am 29. Oktober 1923 startet das­ erste­ ofÏzielle­ deutsche­ Radioprogramm. Übertragen wird die Funk-Stunde Berlin aus einer Dachkammer, nicht weit­ vom­ Potsdamer­ Platz.­ Die Begrüßung fällt zackig aus:­ „Achtung,­ Achtung!­ Hier­ ist die Sendestelle Berlin, im Vox-Haus, auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren!­Wir­machen­Ihnen­davon­ Mitteilung,­ dass­ am­ heutigen­ Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von­ Musikvorführungen­ auf­ drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.“­ Ein Tabakwarenhändler zahlt Milliarden Reichsmark Erster amtlich lizenzierter Hörer ist wenige Tage später der Tabakwarenhändler Wilhelm Kollhoff­ in­ Berlin-Moabit.­ Inflationsbedingt­ zahlt­ er­ für­ ein­ Jahr­ Radiohören­ 350­ Milliarden Reichsmark. Über zu hohe Gebühren klagt er nicht. Schnell gewinnt das Angebot an Popularität. Die Aufnahmeund Sendetechnik entwickelt sich rasant. Hans Bredow fasst den­ Erfolg­ und­ die­ Ambition­ 1924 in einer weihnachtlichen Ansprache „an alle Amerikaner“ zusammen, natürlich im Radio: „Während­ noch­ vor­ wenigen­ Jahrzehnten­ eine­ Reise­ nach­ Amerika Wochen in Anspruch

nahm, haben wir jetzt die überwältigende­ Tatsache­ einer Überquerung des Ozeans in 70 Stunden durch den Zeppelin erlebt. Aber eine noch viel­gewaltigere­Verschiebung­ der­ Zeitbegriffe­ ist­ im­ Nachrichtenverkehr­ vor­ sich­ gegangen, ist es doch mithilfe des Radios möglich geworden, Nachrichten in dem Bruchteil einer Sekunde über die ganze­ Erde­ zu­ verbreiten.­ Diese­ Entwicklung hat dazu geführt, dass wir die Welt heute als gemeinsamen Sprechsaal ansehen können, ganz gleich, ob wir­ Nachbarn­ sind­ oder­ Antipoden.“ Bredow preist die umwälzende­ Kraft­ des­ neuen­ Mediums; die Gefahren klingen untergründig an: „Zum ersten Mal­ seit­ der­ Erfindung­ der­ Buchdruckerkunst durch den Deutschen Gutenberg ist eine neue­ Möglichkeit­ geschaffen,­ geistige­Güter­gleichzeitig­Ungezählten­ zu­ übermitteln.­ [...]­ Radio will in Deutschland keine­ Sensation­ sein,­ nicht­ den­ schlechten­ Instinkten­ schmeicheln, sondern das Gute und Edle im Menschen wecken und seine Sehnsucht zu innerer­ Vervollkommnung­ stillen.­ [...]­Weit­über­die­Grenzen­der­ Länder hinaus wird Radio einst Bedeutung haben. Es wird die Völker zu einer großen Gemeinde zusammenschließen und ihnen durch tägliches gemeinsames Erleben die Erkenntnis­ vermitteln,­ dass­ sie­ alle Glieder einer einzigen gro-

Rundfunk & Museum 100 – Februar 2021

13