Funkgeschichte
1. Einkesselung von Millionen Menschen Wenige Monate nach dem Überfall HitlerDeutschlands auf die Sowjetunion stand die Wehrmacht vor der alten russischen Hauptstadt St. Pe tersburg, die seit 1924 nach dem Revolutionsführer Lenin grad hieß. Am 8. September 1941 war der Belagerungsring um die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion weitgehend ge schlossen. Die Wehrmacht sollte die symbolträchtige Stadt nicht erobern, sondern aushungern. Zwar bot der LadogaSee im Sommer und im tiefen Winter Möglichkei ten zur Versorgung und Eva kuierung, doch waren diese insgesamt unzureichend. Erst im Januar 1943 wurde die Blo ckade durch einen schmalen Landkorridor durchbrochen, doch konnte die Rote Armee den trotz mehrerer Offensi ven nicht vergrößern. Als die Blockade nach 871 Tagen am 27. Januar 1944 endgültig be endet war, waren je eine Mil lion Zivilisten und Rotarmisten ums Leben gekommen, wenn nicht mehr. Jörg Ganzenmüller betont in seiner historischen Dissertati on nach ausführlicher Diskus sion, dass die Entscheidung zum Genozid an der Sowjet bevölkerung bereits vor dem „Unternehmen Barbarossa“ gefallen war. Er zitiert unter anderem „Wirtschaftspoliti sche Richtlinien für die Wirt schaftsorganisation Ost“ (23.
Mai 1941), die auf die Verein nahmung des Schwarzerdege biets für die Versorgung des Reichs abzielten und dieses von den anderen Gebieten abriegeln wollten: „Die Kon sequenz ist die Nichtbeliefe rung der gesamten Waldzone einschließlich der westlichen Industriezentren Moskau und Petersburg. [...] Viele 10 Millio nen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Si birien auswandern müssen.“ Es ging also bei der Blockade Leningrads nicht einfach um die nicht gewollte Übernahme der Versorgung einer überle benden Zivilbevölkerung, der man einen kleinen Fluchtweg „nach Sibirien“ ließ, sondern um deren Untergang. Später war aus logistischen und mili tärischen Gründen eine Erobe rung Leningrads nicht mehr möglich. Ganzenmüllers Buch bricht auch den sowjetischen Heldenmythos („waffenpro duzierende Frontstadt“, So lidargemeinschaft) und lenkt den Blick auf den Überlebens kampf der Bevölkerung im Blockadealltag, die Rolle der Nomenklatura und den fort gesetzten Terror durch den sowjetischen Geheimdienst. Bemerkenswert: „Die Lenin grader setzten während der Blockade wissenschaftliche und kulturelle Aktivitäten in einer Weise fort, die im nach hinein (sic) für Außenstehende fast absurde Züge annimmt. [...] Offensichtlich war kultu
relles Engagement ein wesent liches Mittel, um zu überle ben. Zumeist richteten sich die Aktivitäten von Künstlern und Intellektuellen an ein gebilde tes Publikum; vielfach hatten sie jedoch auch eine enor me Bedeutung für die breite Bevölkerung. Im Radio, dem einzigen öffentlichen Kommu nikationsmedium in der ein geschlossenen Stadt, las etwa Olga Bergholz. Ihre Gedich te waren für die Leningrader mehr als Durchhalteparolen, Olga Bergholz verlieh dem Lei den, das alle empfanden, den intensivsten Ausdruck.“ 2. Radio Leningrad Wie schon angesprochen hat te sich der Rundfunk im Lenin grader Raum zügig entwickelt. Ein Buch des USDepartment of Commerce über Radio Mar kets of the World führt 1932 als Leningrader Sender RV3 (20 kW) auf 300 kHz und RV36 (1,2 kW) auf 856 kHz sowie aus Kolpino (heute Stadtteil von Leningrad) RV53 (100 kW) auf 300 kHz. Nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs wurden die Sender in der Umgebung Leningrads ab geschaltet. Der 100kWSen der aus Kolpino wurde nach Leningrad an den Primorsky Prospekt verlegt und getarnt. 1941 soll es in Leningrad rund 460000 private Empfangsge räte und mehr als 1700 Stra ßenlautsprecher gegeben ha ben. Nach anderen Angaben wurden auf Befehl vom 28.
Rundfunk & Museum 101 – August 2021
29