Funkgeschichte ausfiel, war die Moral der Be völkerung erschüttert: „Ein alter Mann schleppte sich an zwei Stöcken von der Wasi lewskiInsel bis hierher und sagte: ‚Sehen Sie, solange es sich nur darum handelt, mutig zu sein, ist alles gut. Auch eine Kürzung der Lebensmittelrati onen läßt sich ertragen. Aber lassen Sie das Radio sprechen. Wenn das aufhört, ist das Le ben zu fürchterlich. Dann ist es, als läge man im Grab.“ Die Sendungen waren also etwas, auf das man hinleben konnte, und ermöglichten trotz der unvermeidlichen Kriegsberichterstattung und propaganda mit den musi kalischen und literarischen Anteilen die Erinnerung an eine andere Welt. Tatsächlich verbesserte sich im Frühjahr 1942 auch die Stromversor gung wieder. 3. Olga Bergholz – die Stimme Leningrads Die Umstände und wechsel haften Biographien der Prot agonisten sind wahrscheinlich nur von jemandem zu verste hen, der ein Unterdrückungs regime erlebt hat oder sich tief in die Geschichte der Sta linZeit einarbeitet. Eine Ah nung von der Problematik ver mittelt der in St. Petersburg geborene russischkundige BBCKorrespondent Alexan der Werth (19011969), der ab 1941 in der Sowjetunion lebte, das belagerte Leningrad 1943 „als eingebetteter Journalist“ 32
besuchte und somit im Be wusstsein als Augen und Oh renzeuge schrieb. Er schreibt in „Russland im Krieg 1941 1945“, einer der ersten gro ßen westlichen Darstellungen: „Es ist typisch, daß eine Figur wie die Schriftstellerin Olga Bergholz, die während des Hungerwinters 1941/42 über Radio Leningrad als eine der führenden DurchhaltePro pagandisten eine so wichtige Rolle spielen sollte, im Jahre 1937 aufgrund einer phanta sievoll zusammengeschwin delten Anklage etliche Monate im Gefängnis zubrachte. Auch andere Mitglieder ihrer Fami lie hatten unter der Säube rungsaktion zu leiden. [...] Sie war eine typische Leningrader Erscheinung – eine Frau, die bereit war, für Leningrad ihr Leben zu geben, die aber in ihrem Innersten Stalin haßte.“ Olga Fjodorowna Bergholz (1910-1975) hatte allen Grund, „das System“ zu hassen – und für den Geheimdienst als dau erhaft unsicher zu gelten. Sie geriet 19371939 in stalinis tische Säuberungen und In trigen des Geheimdienstes, wurde gefangen gesetzt, miss handelt, freigelassen, reha bilitiert usw. Am Ende hatte sie nicht nur zwei Kinder im Kindesalter (Irina 19281936, Maya 19321933) verloren, sondern konnte infolge der Misshandlungen in der Haft nicht mehr schwanger wer den. Am 14. Dezember 1939 schrieb sie über die Haft:
Rundfunk & Museum 101 – August 2021
„Wozu in aller Welt haben sie mich dieser Qual ausgeliefert? Wozu diese wüsten, delirie renden Nächte? Sie haben mir die Seele aus dem Leib geris sen, mit ihren stinkenden Grif feln darin herumgewühlt, hin eingespuckt und geschissen, um sie anschließend zurück zu stopfen und zu sagen: Geh, leb weiter… Werd´ ich das? Bin mir nicht sicher.“ Olga Berg holz blieb im Visier des Ge heimdienstes. 1942 wollte er ihren Vater auf sie ansetzen. Als dieser sich weigerte, wur de er nach Sibirien deportiert, und seine Tochter konnte ihm nicht helfen. 1947 kehrte er nach Leningrad zurück. 1948 starb er. Unmittelbar nach dem Kriegs beginn wurde Olga Bergholz 1941 zur Mitarbeit am Le ningrader Rundfunk heran gezogen, um kriegsbedingte Lücken zu füllen. Die 31jäh rige hatte journalistische Er fahrung, war aber als Autorin noch kaum hervorgetreten. Nach und nach entwickelte sie den Stil, der sie zur inneren Gesprächspartnerin der Einge schlossenen machte. War man in Leningrad anfangs noch op timistisch gewesen, dass die Rote Armee die deutschen Truppen bald zurückwerfen werde, wurde in den ersten Monaten der Blockade immer klarer, dass die üblichen Paro len an der Wirklichkeit abprall ten. Olga Bergholz gelang ein „Ge spräch unter vier Augen“, „das