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Funkgeschichte die 2003 starb) die Dichterin [...]. Im letzten Jahr ihres Le­ bens sagte sie: ‚Ich lebe durch Schmerz, ich schreibe durch Schmerz...‘“ 4. Leningrader Symphonie Zum Mythos Leningrad im Krieg gehört auch die Auffüh­ rung der Leningrader Sym­ phonie von Dmitri Schostako­ witsch am 9. August 1942. Der Komponist hatte das Werk schon vor dem Krieg begon­ nen, arbeitete aber erst ab Juli 1941 wieder intensiver daran. Am 1. September 1941 berichtete er im Leningrader Rundfunk, dass er den zweiten Satz fertiggestellt habe. Am 1. Oktober 1941 wurde Schos­ takowitsch mit seiner Familie aus Leningrad ausgeflogen. Er stellte das Werk in Kuiby­ schew (heute wieder Samara) fertig. Die Symphonie wurde am 5. März 1942 vom Orches­ ter des nach Kuibyschew eva­ kulierten Moskauer Bolschoi­ Theaters unter Leitung von Samuil Samossud uraufge­ führt. Die Moskauer Premiere am 29. März 1942 fand unter lebensgefährlichen Umstän­ den während eines Luftalarms statt. Olga Bergholz erlebte sie in Moskau mit: „Wie ich ihn [Schostakowitsch] da stehen sah[, um den Beifall entgegen­ zunehmen], [...] klein, zart, mit einer großen Brille, da dachte ich, ‚dieser Mann ist stärker als Hitler‘.“ Trotz ihrer ange­ griffenen Gesundheit wollte sie nach Leningrad zurück, 34

weil man in Moskau die Wahr­ heit über die Lage in Leningrad nicht erzählen durfte. Schostakowitschs Widmung an seine Heimatstadt mach­ te die siebte Symphonie zur Leningrader Symphonie: „Ich widme meine Siebente Sym­ phonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem un­ abwendbaren Sieg über den Feind und Leningrad, meiner Heimatstadt …“ (Prawda 29. März 1942) Stalin war daran interessiert, die Leningrader Symphonie zum Symbol des Widerstandswillens zu ma­ chen. Die Musikhistorikerin Dorothea Redepennig nannte in einem Beitrag über „Das Werden eines Mythos“ drei Gründe, die die Leningrader Symphonie dafür geeignet machten: „Im Bewusstsein der Welt und im Bewusstsein sowjetischer Musikgeschichts­ schreibung galt (und gilt) die Symphonie als eine deutsche Erfindung und als Gipfel an­ spruchsvoller Musik. So ver­ mochte sie mehr als jede an­ dere musikalische Gattung[,] als Waffe der Kultur in den Händen eines sowjetischen Komponisten der Unkultur des nationalsozialistischen Deutschland Einhalt zu gebie­ ten. Diese Kraft konnte die Symphonie über ideologische und nationale Grenzen hin­ weg entfalten, weil sie instru­ mental blieb, sich also nicht über einen (kommunistischen) Text festlegte. Šostakovič tat ein übriges [sic], indem er auf

Rundfunk & Museum 101 – August 2021

der Partitur vermerkte: ‚Der Stadt Leningrad gewidmet.‘“ Die Leningrader Symphonie war auch Medium der Public Diplomacy bei den West­Alli­ ierten. Die Erstaufführungen in Großbritannien (22. Juni 1942) und in den USA (19. Juli 1942) wurden jeweils von der BBC bzw. der NBC landesweit übertragen. Man riss sich um die Aufführungsrechte. Be­ merkenswert ist aber auch, dass die Kritiken im Westen schon damals den symboli­ schen Wert höher einordne­ ten als den musikalischen. Auch in Leningrad musste die Symphonie aufgeführt werden. Ein Sonderflugzeug brachte im Juni 1942 die Or­ chesterpartitur nach Lenin­ grad. Das Ansinnen ignorierte die Leningrader Realität. Die Leningrader Philharmoniker des mit Schostakowitsch ver­ bundenen Jewgeni Mrawin­ ski waren nach Nowosibirsk evakuiert. Das Rundfunkor­ chester hatte unter Karl Eli­ asberg (1907­1978, Dirigent 1937­1950) von September bis Dezember 1941 noch regel­ mäßig gespielt. Der Zeitzeu­ ge Juri Woronow beschreibt die Gefühle im Nachhinein so: „Daß aber alles das gesche­ hen konnte, schleppten sie sich durch die verletzte Stadt und durch ihr Schweigen. Auf Schlitten schleiften hinter ih­ rem Rücken die Waldhörner, die Bässe und die Geigen... Niemand erfuhr, daß oben auf der Bühne ein Arzt sich