Funkgeschichte innerungspolitik reichen bis in die Kriegszeit selbst zurück. So begann die Führung Lenin grads noch 1942 während der Blockade an ihrer Darstellung der Ereignisse. Aber: Ein 1944 eröffnetes Mu seum, in dem die Blockade geschildert und Erinnerungs stücke aufbewahrt wurden, wurde nach einem Besuch des Moskauer Politbüromit glieds Georgi Malenkow 1949 geschlossen. Er hatte genau erkannt, dass das hier öffent lich erzählte Schicksal Stalins Ruf beschädigen würde. Der 1948 herausgegebene Muse umsführer würdigte zwar den Feldherrn und Generalissimus, aber die Ausstellungsstücke sprachen lauter. Einige über lebende Leningrader Literaten fassten ihre Erinnerungen in bekannten Werken zusam men, so Olga Bergholz in „Le ningrader Tagebuch“ (1944) und „Hier spricht Leningrad“ (1946) und Alexander Boris sowitsch Tschakowski (1913 1994) im mehrbändigen Ro
man „Es war in Leningrad“ (1944, 1945, 1947). Weitere Zeugnisse Leningrader Lite raten wurden teils nicht ver öffentlicht, teils umgeschrie ben oder wie auch Bergholz‘ Werke wieder eingezogen. Bei einem parteiinternen Macht kampf („Leningrader Affäre“) wurden bis 1953 mehrere Tausend Stadtverantwortliche in Partei und Militär und wei tere Zeitzeugen der Leningra der Blockade beseitigt. Damit waren auch die lokalpatrioti schen Motive erst einmal eli miniert. Leningrad wurde am 1. Mai 1945 zusammen mit anderen Städten der Titel Heldenstadt verliehen. Das Bild von der Verteidigung der Heimat und dem Sieg über den Faschismus unter Führung Stalins und der KPdSU überdeckte bis in die Zeit der Perestroika persönli che Schicksale. Jahrzehntelang hatte die sow jetische Bevölkerung kein un geschöntes Bild über das Leid in Leningrad, abgesehen von
eventuellen Familientraditio nen der Blokadniki. Seit den 1980erJahren und der zuneh menden Öffnung der Archive werden weitere Geschichten erzählt: Von falschen Ent scheidungen und Einschät zungen, von der Inkaufnahme menschlichen Leidens und von Lebensmittelprivilegien der Nomenklatura, während es an dernorts auch Kannibalismus gab. In den letzten Jahrzehn ten gab es darum noch einmal einen Schub an Zeitzeugenli teratur, ähnlich wie Dokumen te der Familiengeschichte für die Geschichtsschreibung neu entdeckt wurden. Dieser Artikel von Prof. Biener ist eine wissenschaftliche Arbeit. In unserer Zeitungsfassung fehlen die Angaben der wissenschaftlichen Literatur und der Zitate. Den Artikel ohne diese Kürzungen finden Sie online unter http://www.biener-media. de/biener-radioar tikel. htm#literatur.
Unser Gastautor Prof. Dr. Hansjörg Biener (*1961) in Stichworten: • seit den Siebzigerjahren hobbymäßige Beschäftigung mit Rund funkfernempfang. • seit den Achtzigern Autor bei entsprechenden Fachzeitschriften. • 1991 Promotion in Erlangen über internationale christliche Sen der. • seit den 2000ern Mitglied im Förderverein des Rundfunkmuse ums.
Rundfunk & Museum 101 – August 2021
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