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Die Glosse:

Der gute Nachbar

30 G rad im Schatten und doch friert jeder I Natürlich, minus dreißig Grad im Schatten meine ich (Vor­ sicht! Witz; antreten zum Lachen......... ). Nein, es war uns nicht zum Lachen, bei dreißig Grad im Schatten fror das Gesicht so ein, daß wir eher grimmige Masken auf­ hatten. Weil wir nicht lachen konnten, ko­ stümierten wir uns entsprechend. Würdige Herren aus der nahezu vergeistigten Schicht der neunten Klassen schlichen mit Zipfel­ mützen a la deutscher Michel 08/56 in das Anstaltsgebäude. Zum ersten Male freute man sich, wenn man die geliebten Mauern betreten konnte, denn hier war es warm (wenigstens für den ersten Augenblick schien es so). Dann war es mit der Liebe auf den ersten Augenblick vorbei, als man nämlich merkte, daß der Hausgeist mit seiner asth­ matischen Dampfheizung nur knappe 130 Wärme erreichte. 13° Wärme und Schule, nein, lieber 300 Kälte und keine Schule. Aber solche Gedanken stießen bei der Obrig­ keit, die für das Wohl und Wehe ihrer Schüler die Verantwortung trägt, auf Ab­ lehnung. In den Augen der Schüler schwelte darob die kaum noch zurückgehaltene Glut wilder Leidenschaften, unverständliches, drohendes Gemurmel hörte man allenthal­ ben auf den Gängen, besonders in der Nähe des Direktorats. Wo mehr als zwei beisam­ menstanden, roch man die drohende Palast­ revolution schon zwei Stockwerke weit. Doch die Obrigkeit blieb hart und unerbitt­ lich, nicht achtend der allerseits drohenden Gefahr. Die Volksseele kochte, schäumte, aber sie lief nicht über. (Wegen der dreißig Grad im Schatten). Die Klassensprecher be­ drohten die Vertrauenslehrcr, um ihrerseits nicht von den Klassen bedroht zu werden. Sie schleiften die Opfer der Kälte, Märty­ rern gleich, zum Konrex. Der Rex selbst inspizierte die kältesten Klassenzimmer, meinte, daß es kalt sei und schätzte die Temperatur auf mehr als 15 Grad. Hier rächte es sich, daß böse Menschen vor vie­ len Jahren die Thermometer in den Klassen­ zimmern abmontiert hatten. Die naturwis­ senschaftlichen Meßergebnisse hätten ihn eines besseren belehrt. Von Tag zu Tag wuchs die Unzufriedenheit des Volkes. Da wurden besänftigende Ge­ rüchte verbreitet, daß die Koksvorräte nur noch ein paar Tage reichten und daß even­ tuell unter gewissen zwingenden Umständen freilich der Schulbetrieb geringfügig einge­ schränkt werden müßte. Das Volk wiegte sich in Siegeshoffnungen. Der Wetterbericht hielt weiter zu ihm. Kalt, kälter wurde es, die Dampfheizung war nur mehr ein lächerliches Symbol menschlicher Vorsorge. Die finsteren Blicke hellten sich auf, das Gemurmel verstummte. Nächste Woche fällt die Schule aus! verkündeten manche Klassensprecher übereilig. Sie sollen es schwer bereut haben. Man empfand die Kälte in den Klassenzimmern nicht mehr so grimmig, man drängte sich um die lauwar­ men Heizungsschlangen und malte Männ­ chen und Fünfer in das F.is der Fenster,

Jahrgang 3/4

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denn der Endsieg schien nahe. Aus dem hu­ manistischen Gymnasium drang eine Freu­ denbotschaft an das Ohr des Volkes: der Mädchenabort sei eingefroren! Hurra, das erste Opfer der Kälte! Angesichts dieser Tat­ sache war ein Weiterführen des Unterrichts für die Mädchen höchst problematisch. Sie wird kapitulieren, die Obrigkeit! lachte man sich ins Fäustchen. Aber dann wurde die niederschmetternde Nachricht verkün­ det: der Knabenabort wird geschlechtcrweise im Schichtbetrieb benützt. (Es kursierte das Gerücht, die Lehrkräfte hätten die Ein­ haltung der Schichten genauestens zu über­ wachen). Die Obrigkeit hatte einen Sieg auf der ganzen Linie davongetragen. Tiefe Nie­ dergeschlagenheit bemächtigte sich der Ge­ müter. Wünsche wurden laut, daß doch den einen oder anderen die Grippe mit allen Schikanen befallen möge. In die ohnmäch­ tige Wut der Gymnasiasten und Oberreal­ schüler (hier waren sie e in m a l einig) platzte die Nachricht, daß das Lyzeum (jetzt habe ich es wieder verkehrt geschrieben, ich wollte sagen: das Mädchenrealgymnasiuin) zwei Tage s c h u lf r e i bekam. Diese Wei­ ber....... (Entschuldigung). Während die Mädchen leichten Sinnes nach Hause hüpften und während die Pennäler und Oberrcnlschülcr noch zwischen Trug und Hoffnung schwankten, während im Gymna­ sium Verantwortlichen ob ihrer biederen Ofenheizung frohlockten und die Dampf­ heizung der Oberrealschule unerbittlich den überall ausverkauften Koks fraß, ohne zu wärmen, während also für die Obcrrcalsrhüler die Dinge auf des Messers Schneide standen, brachte jemand heraus, daß die Olt auch mit Anthrazit geheizt werden kann. Gleich fuhr ein Lastauto voll Kohle vor. Aus der Traum. Es wär’ so schön gewesen. . Was tun, sprach Zeus, die Kohlen sind ver­ geben, und wir hatten das Pech, welche zu bekommen. Es bleibt nur ein Weg: der pas­ sive Widerstand. Das Hirn friert einem ein. Mit Ohrenschützern, Schals, und Winter­ mänteln müßte man sich reinsetzen. Manche taten es. Heroen unter der Masse des Volkes ergriffen die Gelegenheit, standen mitten unter der Stunde auf, holten sich wortlos den Mantel aus dem Schrank, zogen ihn mit eiserner Miene an und verharrten für den Rest der Stunde in unsäglicher Gereiztheit. Fortwährend wurde den Lehrern versichert, daß man bei dieser Hundekälte zu keinerlei geistiger Tätigkeit fähig sei, wie man am Unterricht feststellen könne. Zeigten sich bei einem Lehrer Anzeichen eines heraufziehen­ den Schnupfens, so begegneten ihm höhni­ sche Blicke. Die Klasse erwähnte altklug, daß man nicht genug für seine Gesundheit tun könne und räusperte sich vernehmlich. Es war ein zermürbender Kampf. Eisige Kälte plus wärmste Hoffnungen der Schüler gegen den kategorischen Pflichterfüllungs­ imperativ der Obrigkeit (Entschuldigung, ich will wirklich nicht unanständig werden). Der Chef der Oberrealschule hielt trotz eigenen Superkatharrhs tapfer an der Spit­ ze seiner Getreuen aus. Den Abiturienten wurde versichert, daß sie in der glücklichen

Wenn einer von uns schläfrig wird, Der andre fü r ihn wacht. Wenn einer plötzlich stecken bleibt, Der andre es ihm

sagt.

Wenn einer weiß kein

einzig

Wort,

Der andre schreibt fü r zwei: Denn jedem Schüler gibt ein Gott

Oberrealschule

Gemeinsame Schülerzeitung der Fürther höheren Schulen Stadt. Mädchenrealgymnasium Hum. Gymnasium Stadt. Handelsschule Fürth

Den treuen Nachbarn bei. V

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Lage seien, auch bei einer völligen Schließung der Anstalt in den Genuß des Unterrichtes zu kommen. Man werde ge­ gebenenfalls das Lehrerzimmer für sie hei­ zen. Gerüchte kursierten, daß das Ministe­ rium für jeden Abiturienten zwei Woll­ decken zur Verfügung stellen wollte. ( ie unser Sonderkorrespondent erfahren haben will, wollen die neunten Klassen der Oll beim Ministerium gegen die Osterferien pro­ testieren. Zwei Monate vor dem Abitur sei eine Unterbrechung in höchstem Maße un­ verantwortlich.) Im Laufe der Zeit wurden die Gerüchte über die Schließung der Schulen dementiert, doch es blieb weiterhin kalt. Dafür gelang es dem Schulsprecher der ORF, die Zusage des Di­ rektorats zu einem Skiwauderlag zu erlan­ gen. Ein Sonderzug sollte die Oberrealschfller in die winterlichen Gefilde von Warmensteinach bringen. (Ein Sonderlob für den Schulsprecher, Adenauer wäre auf diese Lei­ stung stolz). Eifrige Diskussionen wurden daraufhin geführt, an welchem Tag mau den Ausflug hallen solle, damit möglichst viele Stunden Ausfielen. Der infolge der Kälte cingeschlufenc Klassenkampf bekam neuen Auftrieb, denn die Neunten wollten den Freitag (ob ich wohl verschweigen soll, daß sie da zehn Stunden haben?), der un­ reife Restbestand der Schule war dem Don­ nerstag nicht abgeneigt; das Lehrerkolle­ gium hingegen sah diesem Wandertag teils mit Freude (So'nc Skifahrt, die ist lustig!), teils mit Unbehagen (Leise rieselt der Kalk .. .. ) entgegen. Doch merkwürdig, zwar erregten mehrere Rundläufe die Klassen, die zur Teilnahme an diesen Skiwandertag aufriefen, doch wenn man im Lehrerkollegium Umfrage hielt, wann -nun der Sonderzug starte, wußte man von nichts. An einem Samstag, kurz vor Schulschluß (!), verkündete ein schüchterner Rundlauf den anwesenden Schülern, daß der Sonderzug abgeblasen werden mußte, weil eine Nürnberger Schule ihre Teilnahme ab­ gesagt hatte. Deus ex machina........ Mittlerweile ist es wieder wärmer geworden. Die grimmige Kälte konnte der Erfüllung des Unterrichtspensums fast keinen Abbruch tun. Der Wetterbericht gibt keinen Grund zur Besorgnis für die Lehrer, den Schülern stehen als moralischer Ausgleich die Oster­ ferien zur Verfügung. Die dreißig Grad im Schatten waren umsonst. Uns bleibt nur noch eine Hoffnung: daß der Juni dreißig Grad im Schatten bringt. . .. — ajw —

Februar / März 1956

Jahrg. 3 /Nr. 4

A b o n n e m e n tp r e is E in z e lp r e is

30 Dpi. 40 Dpi.

0«tzon*nflüchtling Eva Kampe berichtet uns:

Jugend unter dem Druck des Ost-Regimes »Ein Brief hilft mehr als ein Paket« - Idealismus in der FDJ? • Volkstanz als W ahlpropaganda Verscherzen w ir uns die Wiedervereinigung?

Mehr nl» 11000 Oberschülcr und Abiturienten sind bisher aus der Sowjetzone nach Wcstdculsi lilnnd geflüchtet, um hier ihren Schulbesuch oder ihr Studium fortzusetzen. Mit dem Strom der Flüchtlinge kam auch Eva K am pe über Westberlin in die Bundesrepublik. Sie hesiieht jetzt die achte Klasse der Oberrealschule Fürth. In einem Interview berichtet sie für die Leser der PENNALEN über ihre Eindrücke vom Westen und Osten Deutschlands. „Was ist Dir in den Wochen, die vergan­ gen sind, seit Du hier in Westdeutschland wohnst, am ersten aufgefallen?“ lautete die erste Frage an Eva. „Mir ist vor allem aufgefallcn, daß ein Großteil der Menschen hier so äußerlich ist. Wenn sie genügend verdienen, ihr Fern­ sehgerät und sonstige Bequemlichkeiten ha­ ben, dann sind sie schon zufrieden.“ Es war fast haargenau die Antwort, die ein auf­ merksamer Zeitkritiker von ihr erwartet hätte. Wer aus der Ostzone kommt, stellt immer wieder fest, daß wir Gefahr laufen, über unseren neu errungenen Lebensstan­ dard die eigentlichen Werte des Lebens zu verkennen. Lebensstandard und Mode hän­ gen eng zusammen. Deshalb fragten wir Eva Kampe, wie es denn drüben mit der Mode stünde. Lange Hosen für Mädchen - in der DDR verpönt „Haben die Mädchen in der DDR auch die verwirrende Auswahl, wenn sie ein neues Kleid kaufen wollen?“ „Die große Auswahl gibt es nur im Westen. In der Zone werden Kleidungsstücke fast ausschließlich als Konfektionsware verkauft. Man kann in der Stadt viele Frauen sehen, die genau das gleiche Kleid tragen, weil sie nichts anderes zur Wahl hatten. Die langen Hosen für Mädchen sind bei uns völlig un­ bekannt, und ich glaube auch nicht, daß es gern gesehen würde, wenn sie ein Mäd­ chen trüge.“

/ 4ns })eni In h a lt Im Dschungel der Schultafeln W. A. M ozart Eins, zwei - Wechselschritt 30° im Schatten

Nun, über diesen Punkt kann man geteilter Meinung sein. Es gibt auch bei uns Leute, die die Mädchen lieber in bunten Röcken sehen. Es kommt immer auf den Geist an, mit dein man lange Hosen trägt oder nicht. Es wäre natürlich schade, wenn unsere Ju­ gend außer modischer Extravaganzen keine Ideale mehr hätte, aber so verkommen sind wir nun auch nicht. Wie es mit dem Idea­ lismus der Jugend in der Ostzone steht, wird uns im Westen auch interessieren. Eva gab uns aus ihrem Erfahrungsbereich bereitwil­ lig Auskunft. Idealismus in der FDJ? Während wir uns, so sagt man gewöhnlich, die Glieder beim Jitterbug ausrenken, sei die in der FDJ organisierte Jugend der Ost­ zone eifrig am Werk, die Befriedung ganz Deutschlands vorzubereiten. Die Jugend drü­ ben wisse, daß ihr einmal die Zukunft ge­ höre, der Dienst an der Gemeinschaft be­ deute ihr noch etwas; die Jugend des We­ stens begnüge sich dagegen mit Luxus und allgemeiner Lethargie den Forderungen des Staates gegenüber. Eva Kampe, die wie alle Klassen-Kameradinnen der FDJ beitreten mußte, schilderte die geistige Situation un­ serer gleichaltrigen deutschen Brüder im Osten nicht als ganz so idealistisch: „Zu­ nächst darf man in der DDR, wo ja der dialektische Materialismus gepredigt wird, nicht von Idealen reden, denn die sind dem Regime entgegengesetzt. Wenn man Worte hört wie ,Ich lebe für das Vaterland“ oder ,Uns gehört die Zukunft“, so sind das Schlag­ worte, die täglich von allen Seiten auf uns einströmten. Aber wie wenig sie die Jugend ansprechen, sieht man ja daraus, wie viele in den Westen flüchten, damit sie das Vater­ land in der Volksarmee nicht zu verteidigen brauchen. Mit diesem Idealismus ist es nicht weit her. Die größte Aktivität der FDJ ist

Kaum hatte sich Eva Kampe in ihre r neuen Schule eingelebt, da w urde sie auch schon von unserem Reporter überfallen, dem sie hier gerade ihre Eindrücke aus der Ostzone schildert. B ild : D. Streng

nicht Sache der Masse, sondern die einiger weniger Führer. Selbstverständlich werden die Gruppen-Abende regelmäßig besucht, wenn es aber darum geht, wirklich einmal etwas zu tun, zum Beispiel einen Wandka­ sten zu gestalten oder für eine Zeitung zu schreiben, dann drückt sich auch jeder.“ (Wie um die Mitarbeit an den PENNALEN, möchten wir hinzufügen. Eigentlich soll sie Sache aller Schüler sein, aber die Arbeit überläßt man großzügig ein paar Oberklässern, die außer abfälligen Bemerkungen noch nie ein Wort des Dankes hörten). „Die wenigen Aktivisten in der FDJ tun meist nur deshalb soviel, weil sie dann we­ sentliche Erleichterungen an der Schule oder im Beruf genießen — im Grunde also eine recht materialistische Haltung.“ Soweit also Eva Kampe, die diesen Idealis­ mus am eigenen Leibe erlebt hat. Wir wol­ len ihre Erfahrung selbstverständlich nicht verallgemeinern, aber wir sind doch der An­ sicht, daß man den Idealismus der FDJ zu­ nächst einmal näher untersuchen sollte, be­ vor man ihn uns als Muster an Aktivität vorstellt. Das Zeugnis schreibt die FDJ Es ist uns jungen Menschen im freien We­ sten gar nicht bewußt, wie weit die Macht des Staates und seiner Organisationen in den Bereich der Jugend Vordringen kann. Oder